Der starke Erwachsene - ein hoher Anspruch
Der Erwachsene. Ein in der Geschichte der Zeit sich wandelnder Begriff. Was heißt Erwachsensein heute? Inwieweit ist dieses Bild krankmachend oder gesundheitsfördernd? Was müßte sich am Bild ändern, um dem Erwachsensein und Erwachsenwerden gerecht zu werden?
Körperlich und juristisch ist ein 18jähriger in unserer Gesellschaft ein reifer Mensch, ein Erwachsener. Entsprechend, so der Eindruck, wird parallel zur äußeren Reife des jungen Erwachsenen im Allgemeinen auch ein hohes Maß an innerer Reife und Entscheidungsfähigkeit erwartet. Er soll früh stark sein, selbstbewußt und zielgerichtet seinen Weg finden und gehen. Dieses Erwachsenenbild hat sich aus der Geschichte entwickelt. So beschreibt Franz Pöggeler in seinem 1969 erschienen Buch: Der Mensch in Mündigkeit und Reife über ein noch im 20. Jahrhundert verbreitetes Bild vom Erwachsenen:
"Der Erwachsene galt als vollkommen auch dort, wo ihm objektiv Fehler unterliefen; es ging gegen seine Würde, Fehler gegenüber dem Kinde zuzugestehen und sich selbst um der Wahrheit willen zu korrigieren. Das Erwachsensein wurde als ein im Prinzip unveränderlicher Dauerzustand betrachtet, was die Geltung von Mündigkeit, Würde, Autorität und Bestimmungsgewalt des Erwachsenen betraf. Der Erwachsene schien nur ein solcher zu sein, insofern er völlig "fertig" war, eine gerundete Gestalt, an der sich nichts mehr verändern läßt, wenn man das Kunstwerk menschlicher Vollkommenheit nicht verschandeln will... Gegenüber den heutigen Kenntnissen der Entwicklungspsychologie, die das Erwachsenenalter eben als Entwicklungszeit auffaßt wie Kindes- und Jungendalter, muß das selbstverständliche Leitbild des Erwachsenen der Vergangenheit als psychisches Petrefakt anmuten, ohne damals als solches freilich identifiziert worden zu sein. Der Erwachsene galt als ein Mensch, der 'sich nichts vergeben lassen' darf, also keinen Zoll an absoluter Selbständigkeit und Vollkommenheit preisgeben darf. Besser als das Wort 'Autonomie' vermag die Vorstellung von Autarkie die damalige Leitvorstellung vom Erwachsenen zu charakterisieren: Der Erwachsene - so schien es - ist nicht ein Wesen, dass in ständiger sozialer Interdependenz lebt und sich durch geistigen Wechselbezug bereichert, sondern eines, das über ein fertiges Menschsein verfügt, daß es der Änderungen nicht bedarf. Man könnte hier auf von einem Kraftbild des Erwachsenen sprechen, während die heutige Anthropokritik immer wieder das Fragmentarische, Brüchige und Unzulängliche am mündigen Menschen betont...Die Selbstsicherheit und das Selbstbewußtsein des Erwachsenen schienen unbegrenzt groß zu sein; und insofern war der Erwachsene der eigentlich optimistische Mensch, dem Skrupel hinsichtlich der Integrität seines menschlichen Eigenstandes fremd waren. Die individuelle Autarkie in Daseins- und Lebensfragen galt als der entscheidende Ausweis der erzieherischen Autorität: Vollkommenheit des Erwachsenen und Unvollkommenheit des Kindes wurden schroff gegenübergestellt. Zumal dem Manne wurde eine Vollkommenheit sondergleichen zugesprochen" (S. 207/208)
Dem Erwachsenen stehen heute eine Fülle von Lebensentwürfen zur Verfügung, aus der er seinen persönlichen Weg auswählen darf - aber eben auch muss. Individualität ist gefragt. Gleichzeitig ist das Idealbild vom Erwachsenen weiterhin vom alten Leistungs- und Stärkeideal, sowie von Unabhängigkeit geprägt. Auch heute noch - innerhalb einer sich ständig verändernden Gesellschaft - wird von ihm erwartet, dass er früh ein gefestigter und "fertiger", eben erwachsener Mensch zu sein hat und seinen individuellen Weg aus eigener Kraft findet. Der moderne, aufgeklärte Erwachsene glaubt daran, dass, wenn wir Menschen mehr die Vernunft gebrauchen würden, die Welt besser aussehen würde. Er setzt ganz auf die menschliche Gedanken- und Willenskraft. Sein Verstand ist nicht wunderbares, aber begrenztes Element seiner Persönlichkeit, sondern durch den Siegeszug der Aufklärung zu seinem Gott geworden, dem er alles zutraut und von dessen Funktionieren er alles erwartet.
Nicht wenige Erwachsene versuchen diesem Bild und der damit einhergehenden Daueranspannung durch eine krankmachende Überanpassung zu entsprechen oder sie verweigern sich kindlich-trotzig den Ansprüchen des Bildes durch generellen Leistungsausstieg.
Leistungsverweigerung - Kehrseite des "starken" Erwachsenenbildes
Keine Frage: Entspannen, Spaß haben, Spielen, Tanzen - alles sind wichtige Elemente eines gesunden Lebens. Aber das Bedürfnis nach Entspannung, Party und Kind bleiben – Robert Bley spricht gar von einer „kindlichen Gesellschaft“ (1996) - scheint mir sehr ausgeprägt.
Könnte das Festhalten am Kindlichen nicht in diesem leistungsgeprägten Bild vom starken, unabhängigen und vernünftigen Erwachsenen seinen Ursprung haben? Und ist nicht gar die weitverbreite Haltung, stets "Opfer der Umstände" zu sein, eine "gesunde", trotzig-kindliche Verweigerung des hohen Anspruchs an einen "fertigen" Erwachsenen, der gemäß der 200jährigen Idee der Aufklärung ohne Gottes Liebe alleine in der Welt zu stehen hat? Inwieweit ist der Wunsch vieler heutiger Erwachsener nach Unverbindlichkeit und ausgeprägten Spaßerleben auch die Ernte dieses immer noch wirkenden "alten" Erwachsenenbildes, das dem Erwachsenen eine zu große Last an Pflichten und Zwänge auflegt?
Bindung und Eigenständigkeit
Aus der kindlichen Entwicklungsforschung wissen wir, dass das Kind sich im Schutz von Liebe und Geborgenheit am besten zu einem eigenständigen Menschen entwickelt. Und normalerweise werden dem Kind diese förderlichen Umgebungsbedingungen gewährt. Mit Beginn des Erwachsenseins zählt dann jedoch "plötzlich" der Anspruch und die Idee vom starken Erwachsenen, der unabhängig und ungebunden zurechtkommen muss. Doch wie soll ein junger Mensch, der sich von den Eltern löst oder als Kind die Geborgenheitserfahrung nicht machen konnte, in ein psychisch und charakterlich reifes Erwachsensein hineinwachsen, wenn dem menschlichen Bedürfnis nach Bindung und Nähe in unserer Gesellschaft zu wenig Rechnung getragen wird? Wie kann der Erwachsene unabhängig und ein eigenständiger Mensch sein, wenn seine natürlichen Bindungsbedürfnisse nicht gestillt sind? Notgedrungen wird er die erforderliche Eigenständigkeit entwickeln, doch im Allgemeinen lebt die Sehnsucht nach bedingungsloser Nähe und Liebe im Verborgenen weiter.
Mit dem Bild des Erwachsenen als Lebensgärtner stelle ich ein Menschen- und Erwachsenenbild vor, welches sowohl dem Bindungs- und Nähebedürfnis als auch dem Bedürfnis des Erwachsenen nach Autonomie und Eigenständigkeit Rechnung trägt.